Fahrt von Neuhof / Stralsund bis Vlieland

Am 5. Oktober 1999 wurden die beiden Boote "Time for Sydney" und "First Cash" in Elisenhof verkrant und mit Trailern zur Marina Neuhof bei Stralsund gebracht.

Nach 11 weiteren Tagen Arbeit an den Booten war es am 17. Oktober endlich soweit!

50 Monate nachdem wir die beiden Bootsschalen vom Dänholm geholt hatten, legten wir gegen Mittag in der Marina Neuhof ab. Es war vollbracht. Noch ein paar Abschiedsfotos, beste Wünsche für die lange Fahrt und letzte Umarmungen. Unter dem Winken der Freunde und Verwandten entfernten wir uns vom Steg und nahmen Kurs auf den Stralsunder Stadthafen und nach einem kleinen Zwischenstopp Kurs auf Hiddensee. Bei einbrechender Dunkelheit und auffrischendem Wind erreichten wir den geschützten Hafen von Neuendorf und feierten anschließend die erste kleine geschaffte Etappe mit unseren drei bis Hiddensee bzw. Kiel mitgekommenen Gastseglern Marcus, Silvanus und Christian.

Der kommende Morgen brachte einen beeindruckenden Sonnenaufgang, und nach letzten kleinen Vorbereitungen stachen wir am späten Vormittag in See. Nachdem wir die Nordspitze Hiddensees passiert hatten, ging es Richtung West. Bei zunächst schwachen Winden segelten wir vorbei an Falster und durch den Fehmarnsund nach Kiel. Es war kurz vor 19:00 Uhr des 19. Oktobers, wir befanden uns gerade ein Stück ostwärts der Kieler Förde, als uns die Bundesmarine per UKW-Funk mitteilte, daß sogleich eine militärische Übung stattfinde. So hieß es für uns, einen Umweg in Kauf zu nehmen und einen nördlichen Bogen zu segeln. Hinter uns erhoben sich bereits die ersten gelben Signalleuchtkugeln in den düsteren Herbsthimmel, als der Wind merklich auffrischte und die dunklen Wellen sich in rascher Zeit mehr und mehr aufbauten. Bei Windstärke 7 bis 8 und regem Schiffsverkehr hatten wir alle Hände voll zu tun, des Nachts in die Kieler Förde einzulaufen. Doch wir bestanden die erste richtige Bewährungsprobe und waren mit unseren Booten außerordentlich zufrieden.

Im Laufe des 20. Oktobers überführten wir die Boote von Laboe bzw. Yachthafen Holtenau zu dem mehr im Stadtzentrum liegenden Sporthafen Kiel - Düsternbrook. Dies sollte sich als eine weise Entscheidung herausstellen, denn in Kiel gab es mehr zu erledigen als zuvor gedacht.

Aus zwei geplanten Aufenthaltstagen wurden sechs! Vom 20. Oktober bis zum 25. Oktober hatten wir in Kiel alle Hände voll zu tun. Die beiden Dieselmotoren und die elektrische Anlage mußten optimiert, einige weitere Details überdacht und die auf dem Masttopp befindlichen UKW- Antennen ausgewechselt werden, da diese von einer Ausrüstungsfirma unterdimensioniert wurden. Ein Funkgerät trug durch die falsche Antenne sogar einen dauerhaften Schaden davon und mußte ausgetauscht werden.

Am Vormittag des 22. Oktobers wurden die bestellten Genuasegel und die Sparkassen-rot- bzw. Berliner-Pilsener-grünfarbenen Blister von der Firma Diekowsegel persönlich vorbeigebracht und sogleich vor den erstaunt stehenbleibenden Passanten hochgezogen und ausprobiert.

Zudem wurde der Kontakt zu der Firma illbruck, welche ein Boot in das kommende Volvo Ocean Race schickt, intensiviert. Marco traf sich mit Tim Kröger zu einem Erfahrungsaustausch und besichtigte die beiden im Kieler Tirpitzhafen stehenden Trainingsboote.

Bevor wir am 26. Oktober durch die Holtenauer Schleuse fuhren, besuchte uns Tags zuvor ein Berliner Fotograf und machte wunderbare Segelbilder auf der Kieler Förde bei herbstlicher Sonne.

Da es nur tagsüber möglich ist, den 100 Kilometer langen Nord-Ostsee-Kanal zu befahren, legten wir in einem kleinen Hafen in Büdelsdorf bei Rendsburg in der Nacht vom 26. zum 27. Oktober einen Zwischenstopp ein. Während wir unten gemeinsam aßen und die Pläne für die kommenden Tage schmiedeten, blies der mit Regen vermischte Wind mit 7 Beaufort in den Wanten.

Nach einer landschaftlich schönen Fahrt durch den Kanal und zwei weniger aufregenden Tagen im Yachthafen von Brunsbüttel machten wir uns am Nachmittag des 29. Oktobers auf den Weg nach Cuxhaven. Cuxhaven - Tor zur Nordsee und Ausgangspunkt vieler Weltumsegelungen. Dort wurde das Radargerät der "First Cash" repariert und die möglichen Routen für die nächste Zeit ausgearbeitet. Das die Jahreszeit mittlerweile fortgeschritten war, zeigte allein die Tatsache, daß der Yachthafen am 1. November geschlossen und winterfest gemacht wurde und wir in den Cuxhavener Stadthafen wechseln mußten. Täglich besuchten wir die Station des Deutschen Wetterdienstes und holten die aktuellen Information ein, denn nur bei guter Wetterlage wollten wir den Weg über die herbstliche Nordsee wagen.

Am 3. November war es soweit, die Verhältnisse auf der See erlaubten es, die Fahrt in Richtung Niederlande und England zu beginnen. Tags zuvor schaute die örtliche Presse bei unseren Booten vorbei, und mit einem Grußwort des Cuxhavener Oberstadtdirektors im Goldenen Buch der Reise ging es die hinaus auf das offene Meer.

Um vor der nächsten langen Etappe gut ausgeruht zu sein, liefen wir am Abend Helgoland an. Am Morgen des 4. Novembers besuchten wir auch dort die Station des Deutschen Wetterdienstes. Die Vorhersage für den 4. November 1999:

Wind aus Suedwest 4 bis 5, später Suedwest bis Sued 5.
Nach oertlichem Fruehnebel teils wolkig, teils heiter und trocken.
10 bis 12 Grad Celsius.
Aussichten für den 5. November 1999 (Raum Helgoland):
Wind aus Sued Stärke 6. Bis 10 Grad Celsius. Trocken.
Aussichten bis 5. November 07:00 Uhr:
Deutsche Bucht: Sued 6
Suedwestliche Nordsee: Suedwest bis Sued 6

Viel besser kann man es im November nicht bekommen. Selbst die Sonne ließsich von Zeit zu Zeit zwischen den Wolken sehen. Also füllten wir die Thermoskannen mit Kaffee und heißem Wasser, bereiteten Brötchen, Riegel und Fertiggerichte vor, befestigten den Laptop mit dem Seekartenprogramm auf dem Salontisch und verstauten alle beweglichen Dinge in die Kisten und Schränke.

Mit fast 7 Knoten über Grund ging es in Richtung West anfangs gut voran. Der Wind kam tatsächlich aus südlicher Richtung, und somit machten wir mit den Booten hervorragend Fahrt. In der Nacht vom 4. zum 5. November drehte der Wind auf westliche Richtungen, der Kurs wurde schwieriger, und die Wellen wurde ruppiger. Der Plan, bei weiteren guten Segelbedingungen nach England durchzufahren, wurde am Morgen des 5. Novembers geändert. Wir fuhren nun in Richtung Südwest und nahmen Kurs auf die Niederlande, da abzusehen war, daß das Wetter sich weiterhin verschlechterte und wir die englische Ostküste nicht mehr erreichen können.

Am späten Nachmittag verschlechterten sich die Segelbedingungen weiterhin. Das Leben an Bord wurde härter. An Kochen und Schlafen war nun nicht mehr zu denken. Die buckligen, mittlerweile kräftig anwachsenden Wellen ließen die Boote unangenehm schaukeln. Die ersten Gegenstände machten sich unter Deck selbständig und verteilten sich im Salon. Das Navigieren am Laptop wurde eine Kunst für sich, und das Steuern an der Pinne zum Kraftakt. Da wir die Verkehrstrennungsgebiete kreuzen mußten, sendeten wir an die Berufschiffahrt "Securite-Meldungen". Die Wellen waren mittlerweile so hoch, daß wir in den Tälern nahende Tanker und Frachtschiffe nur schwer ausmachen konnten.

In der Nacht vom 5. zum 6. November erlebte der Sturm seinen vorläufigen Höhepunkt. Orkanartige Böen bis 56 Knoten, das sind knapp 100 km/h, und Wellenberge bis 10 Meter Höhe machten uns das Leben schwer. Regelmäßig funkten wir uns gegenseitig an, um zu erfahren, ob alles in Ordnung sei. Trotz der harten Umstände versuchten wir mit stark gerefften Segeln Kurs am Wind zu halten, denn so konnten wir die Wellen am besten aussteuern, auch wenn dies bei Dunkelheit keinesfalls einfach war, und der eine oder andere Brecher das Cockpit mit schäumendem Wasser füllte. Vorn über kommendes Wasser duschte den Wachhabenden alle paar Minuten, und unter Deck war es nur noch möglich, sich auf allen Vieren zu bewegen. Krachend knallte der Bug mit aller Regelmäßigkeit in die Wellentäler, und der heftige Wind ließ die Wanten und Stagen mit einer hohen Frequenz pfeifen und surren. Die vor Holland häufig vorkommenden Bohrinseln und Ölplattformen erschwerten uns zudem das Navigieren und Steuern.

Am Morgen des 6. Novembers beruhigte sich vorerst das Wetter. Wir nahmen weiterhin Kurs auf die holländische Küste und beschlossen, nicht Ijmuiden oder Den Helder anzulaufen, sondern bereits auf der Insel Vlieland festzumachen. Die letzten Tage forderten ihren Tribut und wir wollten schnellstmöglich einen geschützten Hafen aufsuchen. Am Nachmittag schaute sogar die Sonne wieder hervor, und unsere Stimmung war gut, doch kaum an der ersten Ansteuerungstonne Vlielands angekommen, änderte sich die Wetterlage wieder schlagartig. Innerhalb von Minuten wurde der Wind wieder stürmischer und die eh noch relativ hohen Wellen bauten sich rasch wieder auf. Hinzu kam, daß vor der flachen Küste Vlielands eine ungeheure Grundsee auftrat. Glatte, steile und extrem hohe Wellenkämme rollten auf die Insel zu.

Rasch änderten wir den Kurs. Unter keinen Umständen war es möglich, diesen Hafen anzulaufen. Die brechende See wäre von hinten in die Boote eingestiegen. Wir beschlossen, mit dem nötigen Abstand die Küste entlangzufahren und das 30 Seemeilen entfernte Den Helder anzusteuern. Dunkle Wolken zogen schnell heran, und die Windgeschwindigkeiten schnellten wieder auf über 40 Knoten an. Mit Motorunterstützung mußten wir das ein für andere Mal die von der Seite kommenden Wellen aussteuern. Es wurde dunkel, "First Cash" fuhr voran und "Time for Sydney" hielt den Abstand so gering wie möglich. Um 18:30 Uhr war es dann passiert. Ein riesiger Brecher ließ "Time for Sydney" durchkentern. Dank der guten Konstruktion richtete sich das Boot in Sekundenschnelle wieder auf. Aber der Mast war gebrochen, die Wassermassen hatten das komplette Rigg abgeräumt. Arne konnte glücklicherweise noch einen Funkspruch an "First Cash" absenden, bevor die fehlende Antenne das Funken endgültig unmöglich machte.

Marco war zu diesem Zeitpunkt auf "First Cash" unter Deck und sendete augenblicklich "Mayday". Nur kurze Zeit später meldeten sich auf Kanal 16 die Coastguard und Berufschiffe auf Englisch, Holländisch und Deutsch. Die Rettungsmaßnahmen wurden eingeleitet. Nach etwa 10 Minuten wendete "First Cash" und wollte Arne und Jan zu Hilfe kommen. Eine weiße schäumende Wasserwand ließ "First Cash" an der gleichen Stelle durchkentern wie "Time for Sydney". Marco, der wegen der zwischenzeitlichen Funkgespräche mit der Coastguard unter Deck nicht angeleint war, wurde dabei aus dem Cockpit geschleudert, und fand sich fünf Meter hinter dem Boot in der kalten Nordsee wieder. Nur den glücklichen Umständen, instinktiv schwamm er sehr schnell an die Bordwand, Raimar war augenblicklich zur Stelle und keine brechende Welle folgte in diesen Sekunden, ist es zu verdanken, daß Marco überlebte.

Inzwischen waren ein Helikopter der holländischen Marine und ein Rettungsboot der KNRM zur Stelle. Ein gewaltiger Brecher ließ "First Cash" ein zweites Mal durchkentern. Dank der von uns abgeschossenen roten Leuchtkugeln wurden wir schnell gefunden. Auf beiden Booten war es uns nicht möglich die Wellen auszusteuern, ohne Mast und Segel hatten wir keinerlei Chancen. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Boote vorläufig aufzugeben. Bei schwerer See hatten die Besatzungen des Rettungsbootes, welches Jan und Arne abbarg, und des Marinehelikopters, welcher Raimar und Marco sicher vom Boot holte, alle Hände voll zu tun.

Arne und Jan wurden von der KNRM mit dem Rettungsboot zur Insel Vlieland gebracht, Marco und Raimar wurden dagegen mit dem Hubschrauber zum Flughafen Den Helder gebracht, wo sich ein Betreuer um die beiden kümmerte und in ein Hotel brachte.

Niemand von uns wurde ernsthaft verletzt und benötigte ärztliche Behandlung, und noch an dem selben Abend konnten wir miteinander telefonieren.

Die Boote wurden noch in jener Nacht ans sandige Ufer Vlielands gespült und sofort von zwei verschiedenen Teams geborgen, wobei das eine Team einen offiziellen Auftrag hatte und das andere illegal zu Werke ging.

Am Montag, den 08. November trafen wir uns allesamt auf Vlieland und kamen dort in den folgenden Tagen im "Vliehorst", ein Ferienlager, welches dem freundlichen Chef der dortigen Seenotrettungsgesellschaft gehörte, unter. Es gab in der kommenden Woche eine Menge zu tun. Die Boote wurden besichtigt und gesäubert, die geborgenen Gegenstände sortiert und registriert. Die Wasserschutzpolizei nahm Protokolle auf, und ein Gutachter der Versicherung arbeitete mit uns zusammen. Einige Gegenstände die in der Nacht der Strandung weggekommen waren, wurden durch das Einschalten der örtlichen Polizei und Presse nach einigen Tagen wieder zurückgegeben.

Insgesamt wurden wir von den Holländern äußerst freundlich aufgenommen, und sie halfen uns, wo sie nur konnten. Von dieser Stelle aus ein großes Dankeschön! Nachdem die beiden Boote mit einem Tieflader zu einer Werft nach Harlingen gebracht wurden, kehrten auch wir ersteinmal zurück nach Berlin, um die Vorbereitungen für den Wiederaufbau der Boote zu treffen.